Gemeinsame Pressemitteilung von der JGU Mainz und GSI Darmstadt
Sämtliche bekannte Atomkerne und damit fast die gesamte sichtbare Materie bestehen aus Protonen und Neutronen – und doch sind viele Eigenschaften dieser allgegenwärtigen Bausteine der Natur noch nicht verstanden. Insbesondere das Neutron als ungeladenes Teilchen verschließt sich vielen Messungen und es gibt auch 90 Jahre nach seiner Entdeckung noch viele offene Fragen, beispielsweise in Bezug auf seine Größe und seine Lebensdauer. Das Neutron besteht seinerseits aus drei Quarks, die, über Gluonen verbunden, darin umherschwirren. Physikerinnen und Physiker nutzen elektromagnetische Formfaktoren, um diese dynamische innere Struktur des Neutrons zu beschreiben. Die Formfaktoren geben somit eine mittlere Verteilung von elektrischer Ladung und Magnetisierung innerhalb des Neutrons wieder und können experimentell bestimmt werden.
Weißer Fleck auf der Landkarte der Formfaktoren mit präzisen Daten gefüllt
"Ein einzelner Formfaktor, gemessen bei einer bestimmten Energie, sagt zunächst einmal nicht viel aus", erläutert Prof. Dr. Frank Maas, Wissenschaftler am Mainzer Exzellenzcluster PRISMA+, am Helmholtz-Institut Mainz (HIM) und am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt. "Erst die Kenntnis der Formfaktoren bei verschiedenen Energien erlaubt Rückschlüsse auf die Struktur des Neutrons." Für bestimmte Energiebereiche, die über klassische Streuexperimente von Elektronen an Protonen zugänglich sind, sind die Formfaktoren mit guter Genauigkeit bekannt. Für weitere Bereiche, die nur über sogenannte Annihilationsexperimente, bei denen sich Materie und Antimaterie gegenseitig vernichten, zugänglich sind, war dies bisher nicht der Fall.
Nun es ist es gelungen, am BESIII-Experiment in China genau diese Daten für den Energiebereich von 2 bis 3,8 Gigaelektronenvolt zu messen und zwar im Vergleich zu vorherigen Messungen mit mehr als 60-mal größerer Genauigkeit, wie die Kollaboration in der aktuellen Ausgabe von Nature Physics berichtet. "Im übertragenen Sinne haben wir einen weißen Fleck auf der 'Landkarte' der Neutron-Formfaktoren, der bisher unbekanntes Terrain war, mit neuen Daten ausgefüllt", so Prof. Dr. Frank Maas. "Diese sind nun ähnlich präzise wie Daten aus den korrespondieren Streuexperimenten. Dadurch wird sich die Datenlage hinsichtlich der Formfaktoren des Neutrons radikal verändern und wir erhalten auf diese Weise ein weit umfassenderes Bild über diesen wichtigen Baustein der Natur."
Echte Pionierarbeit bei schwierigem Untersuchungsobjekt
Um in den gewünschten Bereich der Formfaktor-"Landkarte" vordringen zu können, werden Antiteilchen benötigt. Für ihre Messungen nutzte die internationale Kollaboration daher den Beijing Electron-Positron Collider II. Hier werden Elektronen und ihre positiven Antiteilchen, die Positronen, in einem Beschleuniger zur Kollision gebracht und vernichten sich unter Aussendung verschiedener neuer Teilchenpaare gegenseitig – die Physik nennt dies Annihilation. Den Prozess, bei dem sich aus einem Elektron und einem Positron ein Neutron und ein Anti-Neutron bilden, haben die Forscherinnen und Forscher mit dem BESIII-Detektor beobachtet und analysiert. "Solche Annihilationsexperimente sind bei Weitem nicht so etabliert wie klassische Streuexperimente", erläutert Maas. "Viel Entwicklungsarbeit war nötig, um das aktuelle Experiment durchführen zu können – die Intensität des Beschleunigers musste verbessert und der Detektor für das schwer fassbare Neutron praktisch neu erfunden werden. Auch die Analysetechnik ist alles andere als trivial. Da hat unsere Kollaboration echte Pionierarbeit geleistet."
Weitere interessante Phänomene
Damit noch nicht genug: Bei ihren Messungen haben die Physikerinnen und Physiker festgestellt, dass der Formfaktor in Abhängigkeit der Energie keine glatte Linie ergibt, sondern ein oszillierendes Muster zeigt, bei dem die Ausschläge mit zunehmender Energie kleiner werden. Dieses überraschende Verhalten haben sie in ähnlicher Weise beim Proton beobachtet – allerdings sind die Ausschläge gespiegelt, also phasenverschoben. "Das neue Feature spricht zunächst einmal dafür, dass die Nukleonen keine einfache Struktur haben", erklärt Prof. Dr. Frank Maas. "Nun sind unsere Kolleginnen und Kollegen in der Theorie gefragt, Modelle für dieses außergewöhnliche Verhalten zu entwickeln."
Schließlich rückt die BESIII-Kollaboration mit ihren Messungen noch das Bild des Verhältnisses der Formfaktoren von Neutron und Proton zurecht. Hier hatte das FENICE-Experiment vor vielen Jahren ein Verhältnis größer eins gemessen, was bedeutet, dass das Neutron durchgehend einen größeren Formfaktor aufweist als das Proton. "Da das Proton geladen ist, würde man es aber genau umgekehrt erwarten", so Maas. "Und genau dies sehen wir, wenn wir unsere Daten zum Neutron mit kürzlich bei BESIII gemessenen Daten zum Proton vergleichen. Hier haben wir unser Bild der kleinsten Teilchen also wieder zurechtgerückt."
Aus dem Kleinen heraus das Große verstehen
Wichtig sind die neuen Erkenntnisse vor allem, weil sie sehr grundlegend sind, meint Prof. Dr. Frank Maas. "Sie geben einen neuen Einblick in die fundamentalen Eigenschaften des Neutrons. Zudem können wir durch den Blick auf die kleinsten Bausteine der Materie auch Phänomene verstehen, die sich in den größten Dimensionen abspielen – wie die Verschmelzung zweier Neutronensterne. Diese Physik der Extreme ist schon sehr faszinierend."